Interview von Michaela Kirschning (Kulturnetzwerk) mit Carsten Fedderke (1. Vorsitzender, Dozent: Schwerpunkt Film), Karin A. Mocke (Dozentin: Tanz, Choreographie) Christiane Boese (Gründungsmitglied, 2. Vorsitzende, Dozentin: bildende Kunst), Ursula Sautter (bildende Künstlerin) und zugeschaltet per Video Barbara C. Schulze (Dozentin und Künstlerin) – allesamt Akteur*innen beim Verein dritter frühling, einem Mitglied des Kulturnetzwerks Neukölln e. V..

 

Derzeit gibt es unter den Mitgliedern des Kulturnetzwerks Neukölln eine ganze Reihe von Jubiläen zu feiern. Auch der Verein dritter frühling e. V. kann in diesem Jahr auf eine 25-jährige Geschichte zurückblicken. Für Februar 2023 ist eine Jubiläumsfeier und Ausstellung im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt geplant. In diesem Interview wird es um vergangene, aktuelle und kommende Erfolge und Herausforderungen gehen.

 

  • An dem Interview sind fünf Personen beteiligt. Ich bitte Sie, sich zuerst erst kurz vorzustellen. In welcher Beziehung stehen Sie zum Verein dritter frühling?

Barbara C. Schulze: Ich bin Gründungsmitglied des Vereins, der 2001 gegründet wurde. Das Projekt dritter frühling wurde aber schon 1997 von der HdK in Zusammenarbeit mit dem Kulturamt Neukölln als Studienprojekt ins Leben gerufen. Ich selbst gebe Schreibwerkstätten. Die letzte zum Beispiel im Schloss Britz im Rahmen der Walter Benjamin Ausstellung. Dabei ging es nicht nur um Walter Benjamin sondern auch um unser eigenes Leben. Ich habe Psychologie, Publizistik und Erziehungswissenschaften studiert.

Christiane Boese: Ich bin auch schon von Anfang an dabei, habe beides miterlebt, das Studienprojekt und die Umwandlung in den Verein. Ich bin Grafikdesignerin. Mich faszinieren die Lebensgeschichten der Menschen und ich arbeite sehr gerne mit vielen verschiedenen experimentellen Techniken. Der dritte frühling liegt mir sehr am Herzen. Als Dozentin gebe ich Workshops im Bereich bildende Kunst (z. B. Collagen, Shibori).

Ursula Sautter: Ich kenne Christiane Boese schon vom Aufbaustudium an der HDK. Ich bin bildende Künstlerin, mache aber auch Kunst im öffentlichen Raum. Dreimal habe ich zu den 48 Stunden Neukölln Kunstprojekte am Richardplatz realisiert. Wir geben gelegentlich auch Kurse zu zweit, weil man sich dabei gegenseitig ungemein bereichert.

Karin A. Mocke: Der Kontakt ist auch über Christiane entstanden. Ich komme aus dem Bereich Tanz und Choreografie und Christiane hat mich eingeladen, beim dritten frühling einzusteigen. Dass wir auch interdisziplinär zusammenarbeiten, schätze ich sehr am dritten frühling. So bereichern wir uns mit unseren unterschiedlichen künstlerischen Hintergründen gegenseitig.

Carsten Fedderke: Ich bin der zuletzt Eingestiegene und irgendwie der Quotenmann und dann auch noch 1. Vorsitzender. Ich habe vergleichende Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Slawistik studiert, habe mich immer sehr für Film interessiert und meine Angebote für den dritten frühling haben immer was damit zu tun. Für mich sind das Entscheidende an der Arbeit beim dritten frühling, die Erfahrungen, die die Teilnehmer*innen einbringen. Film ist ein ideales Medium, um Erinnerungen sprudeln zu lassen und sich auszutauschen.

  • Wie ist dritter frühling entstanden? Was hat es mit dem Studienprojekt auf sich?

Christiane Boese: Ausgangspunkt war damals eine ganze Reihe von Selbstmorden von älteren Frauen in Neukölln , die die Menschen sehr aufgerüttelt haben. Die Frage war, was man tun kann, um der Vereinsamung von älteren Menschen entgegenzuwirken. Damit haben wir uns auch an der UDK (damals HdK) beschäftigt. Es gab da diese Künstlerweiterbildung und hier entstand die Idee zu einem Projekt für ältere Menschen, für Menschen mit Lebenserfahrung – der dritte frühling. Ungewöhnlich war die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit dem Kulturamt Neukölln, damals unter Leitung von Dorothea Kolland.
Da war Neukölln wirklich Vorreiter. Von 1997 bis 2000 war das Projekt direkt an das Kulturamt angebunden. Die Anmeldungen zu den Angeboten, die Gestaltung von Printmedien, die Nutzung von Räumen – alles lief über das Kulturamt. Dann kam der Vorschlag, sich selbständig zu machen. Dieser Vorschlag, das Projekt eigenverantwortlich zu stemmen, war reizvoll und wir beschlossen, einen Verein zu gründen. 2001 war es dann soweit.

Schulze: Wir haben damals nicht gewusst was an zusätzlicher organisatorischer Arbeit auf uns als Vereinsmitglieder zukommen würde. Am Anfang hatten wir noch eine ABM-Stelle, mittlerweile müssen wir das aber alles selbst machen. Auf der anderen Seite hat es Spaß gemacht, eigenverantwortlich die Themen zu setzen, die Flyer zu gestalten, die Dozent*innen zusammenzusuchen. 2007 zum zehnjährigen Jubiläum des Projekts haben wir eine Förderung aus Lottomitteln erhalten. Wir konnten eine Broschüre über unsere bisherige Arbeit herausgeben und unser Jubiläum feiern. In der Folge haben wir uns um Kooperationen bemüht. Trotz unserer beschränkten Mittel ging es die nächsten zehn Jahre weiter, immer mit einem Superangebot, mit immer neuen Ideen. Wenn ich mir die Programme so anschaue, das sind tolle Themen.

Fedderke: Vieles wird ehrenamtlich gemacht. Gut, dass wir mit Christiane eine Grafikerin in unseren Reihen haben. Wir können in begrenztem Rahmen auch Honorare bezahlen, die liegen aber unter dem, was man eigentlich bezahlen müsste. Das ist dann quasi halb-ehrenamtlich. Wir könnten Unterstützung im Büro gebrauchen. Eine Person, die sich mit Buchhaltung auskennt.

  • Worin besteht das aktuelle Kurs- und Workshop-Angebot?

Mocke: Wir bieten immer ein breites interdisziplinäres Spektrum an.

Fedderke: Jetzt zum Ende des Jahres ist der letzte Kurs die Digitalsprechstunde in der Bibliothek. Und es gibt noch einen Filmclub-Termin.

Sautter: Wir überlegen auch, gemeinsam mit Teilnehmer*innen ein Projekt für die kommenden 48 Stunden Neukölln zu entwickeln und treffen uns schon, um Ideen zu sammeln.

Fedderke: Und ansonsten haben wir jedes Jahr ein Jahresmotto. In diesem Jahr war das Motto „Erinnerungen an die Zukunft“ mit der Idee, an die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu erinnern, die ja auch eine Zeit des Aufbruchs waren. Ich habe meinen Film-Kurs Wilde Zwanziger genannt und Chris hat mit Bon Collage eine künstlerische Technik aufgegriffen, die in den 1920ern entstanden ist. Und grade in Neukölln lässt sich ja der derzeitige Umbruch recht gut beobachten. Außerdem setzen wir unsere Online-Aktivitäten fort und bieten die Digital-sprechstunde in der Bibliothek an.

  • Wurde das Angebot tatsächlich von der Zielgruppe der älteren Menschen angenommen?

Fedderke: Das Angebot wird sehr gut angenommen. Viele der Teilnehmer*innen waren / sind in ihren 70er und 80er Jahren.

  • Was unterscheidet das Angebot von dritter frühling im Wesentlichen von den üblichen Angeboten in Seniorenfreizeitstätten und der Seniorenarbeit im Bezirk?

Mocke: Unser Angebot ist deutlich anders. Uns ist wichtig, wirklich Kunst und Kultur zu vermitteln. Wir wollen die älteren Menschen dazu anregen offener, interessierter und mutiger zu werden. Und wir haben auch eine andere Vorstellung von dem Thema Älterwerden. Den Begriff Senior*innen empfinden wir in gewisser Weise als eine Stigmatisierung.

Schulze: Menschen über 60 fallen heute alle unter den Begriff Senior*innen. Dabei ist diese Gruppe mit einer Alterspanne von 60 bis 90+ Jahren sehr divers. Uns interessiert die Frage: Wer sind wir? Was macht die aktuelle Lebensphase aus?

Mocke: Wir verstehen unsere Arbeit als Inspiration für Menschen mit Lebenserfahrung, sich nochmal auszuprobieren und neu zu entdecken.

Sautter: Dabei geht es immer auch um eine Auseinandersetzung mit der Zeit, in der wir gerade leben.

Mocke: Unter unseren Teilnehmer*innen sind auch Künstler*innen, die mal sehr aktiv waren und für die das Angebot eine Möglichkeit ist, im Austausch zu bleiben.

  • Von wem werden die Angebote in erster Linie genutzt?

Mocke: Es gibt mittlerweile einen festen Kern von Menschen, die die Angebote regelmäßig nutzen. Viele haben dabei eine Vorliebe für einen Bereich entwickelt, also entweder kreatives Schreiben oder bildende Kunst, Film oder Tanz. Unter den Teilnehmer*innen sind auch Freundschaften entstanden.

Boese: Es kommen aber immer wieder auch Menschen, die man noch nicht kennt. Wir freuen uns über jede*n, der/die das Angebot nutzen möchte. Einige Orte sind allerdings, wie z. B. das Schloss Britz, leider nicht barrierefrei.

  • Was hatte Corona für Folgen für das Projekt?

Fedderke: Das Bezirksamt hat uns 2021 einmalig die Zuwendung erhöht. Dadurch konnten wir uns auf Online-Angebote konzentrieren und unsere Homepage ausbauen. 2018 hatten wir schon mit beratender Unterstützung durch das Kulturnetzwerk eine Anschubfinanzierung für die Website beantragt, die auch bewilligt wurde. Uns wird immer wieder gespiegelt, dass die Homepage ansprechend ist. Sicher könnte man noch mehr machen, aber das ist eine Frage der personellen Kapazitäten.

Schulze: Die Schreibwerkstatt hat zum Beispiel per Email stattgefunden. Ich habe die Aufgaben verschickt und die Teilnehmer*innen haben die Texte zurückgeschickt und ich habe sie an die Gruppe weitergeleitet. Das war schon sehr aufwendig. Teilweise habe ich die Texte auch per Post verschickt, wenn jemand kein Internet hatte. Insgesamt war das sehr schön. Natürlich fehlte der direkte Kontakt, aber es ging und – erstaunlich für mich – es sind alle dabei geblieben. In diesem Jahr konnten wir dann mit den Texten eine Lesung im Gemeinschaftshaus machen und das war natürlich toll für die Teilnehmer*innen, dass die Texte nochmal nach außen getragen worden sind. Der Kurs hat wirklich vielen geholfen, die Zeit zu überstehen.

Mocke: Selbst im Bereich Tanz war online einiges möglich. Wir waren in der Corona-Zeit sehr aktiv. Meine Kollegin aus dem Bereich Theater und ich entwickelten mit den Teilnehmer*innen ein Dokumentar-Tanz-Theater zu ihrem persönlichem Erleben in der Corona-Zeit, was wir auf der Bühne im Gemeinschaftshaus präsentierten. Inzwischen haben wir bei allen Seminaren einen großen Zulauf. Die Menschen freuen sich, dass sie sich wieder treffen können.

  • Wie steht es um die finanzielle Situation des Vereins?

Fedderke: Die ist schon schwierig, aber im Vergleich zu anderen Bezirken ist das Kulturamt Neukölln schon ein guter Partner für uns. Wir hätten aber natürlich gerne mehr finanzielle Spielräume, um zum Beispiel jemanden für die Buchführung einzustellen, oder eine Person, die sich um die Bespielung unserer Homepage kümmert, weil das an die Grenze dessen geht, was wir neben unseren Workshops und den vielen ehrenamtlichen Aufgaben leisten können. Wir haben ja auch noch andere Jobs.

Schulze: Schön wäre vor allem, wenn wir nicht jedes Jahr bangen müssten, wie es mit der Finanzierung weitergeht. Drei Jahre Planungssicherheit wären wunderbar. Wir werden aber vom Bezirk schon sehr gut behandelt. Es ist eine große Entlastung, dass der Bezirk uns Räume zur Verfügung stellt, für die wir keine Miete zahlen müssen. Gerne würden wir auch noch mehr interkulturelle und generationenübergreifende Projekte machen.

  • Was würden Sie Menschen, die neugierig geworden, sind abschließend über den dritten frühling sagen wollen?

Fedderke: Im Unterschied zu den Angeboten in Senioreneinrichtungen ist unser Angebot kein therapeutisches. Wir arbeiten mit unseren Teilnehmer*innen auf Augenhöhe zusammen. Das heißt natürlich nicht, dass die Art, wie wir Themen bearbeiten, nicht auch therapeutisch wirken kann.

Boese: Wir sind experimentierfreudig und offen für alles Mögliche.

Schulze: Es gibt da diesen alten lateinischen Satz: Im Gestalten gestalten wir uns selbst (fabricando fabricamur) Das bringt, wie ich finde, sehr gut zum Ausdruck, was wir mit unserem Programm erreichen wollen.

 

Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche alles Gute für das kommende Jahr.

Foto: privat